"Erst hochfliegende Vorsätze und dann auch noch Sonderwünsche!" rief Faust mit gespielter Empörung.
"Allerdings. Einer entfernten Cousine von mir ging es einst ziemlich schlecht. Sie hatte dem außer Kontrolle geratenen Begehren ihres Herzens nach einer dauerhaften Beziehung zu einem charismatischen, hochgebildeten Mann nachgegeben und dabei nicht auf die leisen Stimmen gehört, die diesem Verlangen widersprochen hatten. Das arme Ding fiel ganz böse rein: Mister Loverboy schwängerte sie und machte sich dann aus dem Staub. Durch ihre Schuld und die ihres Lovers starb erst ihre Mutter, dann ihr blöder Bruder. Damals waren uneheliche Kinder noch eine Katastrophe, welche eine Frau aus der bürgerlichen Gesellschaft verbannte. Um nicht als Prostituierte zu enden, brachte sie das Kind heimlich zur Welt und tötete es. Dabei wurde sie erwischt. Das wiederum kostete sie den Kopf ..."
"Na, das ist aber eine Räuberpistole!" spottete Faust.
"Schicksal und die Dichtung sind manchmal so gar nicht subtil." bemerkte ich trocken.
"Und dieses offensichtlich weit zurückliegende Schicksal beeindruckt dich so sehr, dass du deinem eigenen Begehren Klötze zwischen die Füße wirfst?" fragte Faust.
"Sagen wir so: Begehren alleine reicht nicht mehr, wenn ich Perfektion will."
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"Soso, also keine halbherzigen Liebesaffären mehr?" sagte Faust lächelnd. "Ich würde dich von ganzem Herzen lieben. Und nicht nur mit dem Herzen!"
"Und für immer? Heirat inklusive?"
Faust blickte mich leicht geschockt an. Das war wohl etwas sehr weit vorgeprescht.
"Mhm," sagte er, "normalerweise machen die Männer den Frauen Heiratsanträge und nicht umgekehrt. Die Damenwelt verfügt doch über weit subtilere Möglichkeiten, die potentiellen Objekte ihrer Liebesaffären in die gewünschte Richtung zu lenken ... das dürfte auch dir schon bekannt sein ..."
Vielsagend musterte er mein Kleidchen und die Einblicke, die es gewährte.
"Mit vorübergehendem Erfolg." belehrte ich ihn. "Es gibt eine Sorte Männer, die leistet keinen Widerstand mehr, wenn sie mal ins Netz gegangen ist. Aber Alphatiere wie du gehören nicht dazu."
"Oha!" rief er aus. Ich hatte ihm geschmeichelt.
"In Bezug auf dich nützt die beste Verführung nichts, weil du letztlich doch tun wirst, was du willst. Also ist es der kürzeste und unkomplizierteste Weg, deine Wünsche zu respektieren, und nicht, dich zu überrumpeln." erklärte ich.
"Und wenn mein Wunsch sich mit deinem Vorsatz deckt, eine Bindung auf - ähm - unabsehbare Zeit, mit viel Liebe und allem, was dazugehört?"
"Dann bleiben da noch meine Wünsche zu beachten." antwortete ich.
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"Als Jonas gegangen war, blieben eine sanfte Brise und eine große Stille zurück. Traurigkeit und ein schmerzliches Gefühl von Verlust erfüllten mich. Ich stand an dem Ort, an dem Cordula ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte - auf der Flucht vor einer furchtbaren, tödlichen Krankheit. Ich vermochte nichts Gutes in ihrem Leiden und Sterben zu erkennen. Und Jonas - es gab mal eine Zeit, in der wir gute Kumpels waren. Diese Tragödie zerstörte mehr als nur Cordulas Leben.
Plötzlich kam mir eine Tarotkarte in den Sinn: Der Turm der Zerstörung, und ich dachte: Genau dies ist Cordula und Jonas passiert. Lisa und ich wurden dabei nur von ein paar herabspritzenden Steinsplittern getroffen.
Aber so ein schwerer Schlag kann jeden treffen und zu jeder Zeit.
Aus meinem Herzen spürte ich starke Entschlossenheit aufsteigen: Dieser Turmblitz soll mich nicht ganz und gar zerschmettern. Ich will vorbereitet sein und mein Haus gut gründen, damit es nicht vergeht. Es gilt zu leben, bis der Tag kommt. Wirklich zu leben! Wie es in diesem Oldie aus den frühen achziger Jahren heißt:
I don't want half hearted love affairs
I need someone who really cares.
Life is too short to play silly games
I've promised myself I won't do that again.
It's got to be perfect
It's got to be worth it
yeah.
Too many people take second best
But I won't take anything less
It's got to be
yeah
perfect.
Young hearts are foolish
they make such mistakes
They're much too eager to give their love away.
Well
I have been foolish too many times
Now I'm determined I'm gonna get it right."
(Fairground Attraction, 'Perfect')
Fairground attraction -It's got to be perfect (High Quality)
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"Jonas schaffte es tatsächlich, mich zu beeindrucken - und ein wenig einzuschüchtern.
'Ok ... ich war wohl nicht fair zu dir.' gab ich zu. 'Du hast also nach einer möglichst rücksichtsvollen Gelegenheit gesucht, um dich von Cordula zu lösen?'
Meine zögernde, unsichere Frage schien Jonas richtig gut zu tun.
'Ja,' antwortete er: 'Solange sie schlimm dran war, war es mir nicht möglich, sie zu verlassen. Aber nach der zweiten Operation und der Rehabilitationskur hatte ich ein gutes Gefühl, dass sie mit der Situation irgendwie umgehen könnte.
Versuche einfach mal zu akzeptieren: Wir waren nicht verheiratet. Wir wollten das auch gar nicht. Wir hatten eine Abmachung. Und das war nicht einfach nur ein Deal zwischen zwei Personen, sondern viel mehr: Es war das reale Abbild unserer Lebensphilosophie: 'Ein bischen Spaß haben' - verstehst du? Danach streben doch sowieso fast alle Menschen, nur wagen es die wenigsten, das zuzugeben. Immer muss etwas Edles dazu geheuchelt werden, damit man nicht schief angesehen wird.'
Nach dieser Rede blickte Jonas mich fast freundlich an. 'Cordula hatte die Stärke, ehrlich zu sein und verwirklichte das in ihrem Leben. Wie auch ich. Es war einfach Pech, dass sie diese Krankheit ein einem so frühen Lebensstadium bekam. Und es war auch Pech für mich. Ich hatte immer Angst davor gehabt, in solch eine Situation zu schlittern: Meine Mutter pflegte meinen Vater sechs Jahre lang. Als er starb, war sie ein psychisches Wrack, ihre Wirbelsäule kaputt, und sie begriff, dass sie die besten Jahre ihres Rentenalters vergeudet hatte. Sie lebt noch - aber sie ist krank und verbittert. Dies ist der Lohn dafür, dass sie jahrelang meinen kranken Vater geliebt und sich um ihn gekümmert hat, und dies ist auch der Grund, warum ich glaube, dass der hohe Wert aufopfernder Fürsorge nichts anderes ist als eine trügerische Mystifikation. Wer dankt mir das denn? Keiner!
Ich habe für mich entschieden, dass nur Spaß und Freude zählen - die zahlen sich nämlich sofort aus, verstehst du? Es gibt keine Schuld, die ich Cordula zurückzahlen müsste, ich habe keine Gesetze gebrochen: Ich bin frei!'
Tatsächlich wirkte er überhaupt nicht frei, sondern eher wie ein Gejagter, und mir schien, dass seine eloquente Verteidigungsrede nicht vor allem mir galt, sondern einem anderen, unsichtbaren Ankläger, der ihn schon oft gepeinigt haben musste.
'Glaubst du im Ernst, was du mir da erzählst? Ich werde dich sicher nicht weiter belästigen. Aber ich glaube, es ist sehr wichtig für jeden Menschen, ehrlich zu sich selbst zu sein.' wandte ich ein."
"Er trat einen Schritt zurück und erhob seine Arme wie in Verteidigung gegen mich: 'Alles eine Frage der Einstellung. Eine objektive Wahrheit gibt es nicht. Wichtig ist, wovon man überzeugt ist: Wenn ich glaube, das alles ok ist, dann ist das so, verstehst du? Du kannst nicht in meinen Kopf sehen, darum ist dein Glaube für mich völlig bedeutungslos... gehe mir also damit nicht mehr auf die Nerven!'
Er trat einen weiteren Schritt zurück und fügte hinzu: 'Nein, du brauchst mich nicht zum Friedhof zu fahren. Ich kann laufen. Die frische Waldluft wird mir besser bekommen als der stickige, von Religion vergiftete Dunst in deinem Auto.'
Er machte sich davon.
'Von Religion vergifteter Dunst in meinem Auto'?! Was für ein Knilch! Ich hatte die Last des schlechten Gewissens, unter der er litt, körperlich fühlen können. Und es schien mir absurd zu glauben, dass es sich bei all dem nur um eine Frage der Einstellung handelte - dass man sein Gewissen einfach dadurch erleichern könnte, indem man sich an irgendwelche willkürlichen Lehren klammert, die das eigene Verhalten rechtfertigen."
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"Als ich bei Cordulas Beerdigung auf dem Friedhof stand, konnte ich es nicht fassen: Ich sah Jonas, wie er abseits stand und trauerte.
Du Bastard, dachte ich.Er war wie ein Aussätziger für mich. Ich wollte mit ihm kein einziges Wort wechseln.Doch während der Zeremonie änderte ich meine Haltung. Als die Beerdigung vorbei war und er sich zum Gehen wandte, ging ich zu ihm und fragte ihn, ob er mit mir eine kleine spontane Spritztour machen würde. Er guckte etwas verblüfft aus der Wäsche, doch ich strahlte ihn an und sagte: 'Komm, steig ein. Ich beiße nicht.' und dachte dabei: Besser, du glaubst mir nicht ...
Tatsächlich stieg er in meinen Wagen und wir begannen unsere Fahrt. Er erzählte, wie sehr ihn Cordulas Tod mitgenommen habe. Ansonsten ginge es ihm jedoch sehr gut - er habe eine neue Freundin gefunden. Als er begriff, dass ich zum Jungfernfelsen fuhr, wurde er still. Wir stiegen aus und liefen zum Felsvorsprung. Außer uns war niemand da. Ich sprach kein einziges Wort, bemerkte aber, dass er mich ärgerlich ansah. Nach einer Weile sagte er in aufsässigem Tonfall: 'Ich bin ehrlich beeindruckt davon, wie Cordula gehandelt hat. Nie hätte ich geglaubt, dass sie dazu überhaupt fähig wäre. Ich könnte das so nicht durchziehen, fürchte ich.'
'Oh ja, ich verstehe!' erwiderte ich und deutete in den Abgrund hinunter, 'Du scheinst ja richtig stolz darauf zu sein! Es besteht aber kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Ohne deine 'intensive Fürsorge' und 'Treue' wäre es erst gar nicht erst dazu gekommen - das weiß ich ganz sicher!'
Er wurde rot vor Wut und rief: 'Du hast gar kein Recht, so mit mir zu sprechen! Und hör auf, irgendwelche Schuldspielchen mit mir zu spielen: Ich bin nicht religiös. Deinen christlichen Schwachsinn kannst du dir sonstwohin stecken ... oder wie wär's wenn Du Dich einfach mal daran hältst, was dein lieber Herr Jesus über das Richten gesagt hat!
Zwischen Cordula und mir gab es eine simple Abmachung: 'Lass uns leben und Spaß zusammen haben.' Nun, als sie krank wurde, hörte der Spaß auf und die Hölle begann: Für sie - und auch für mich. Hast du denn monatelang mit ihr zusammengelebt und ihre Pein und ihre Depressionen ertragen müssen, ihre epileptischen Blackouts, am Tag und in der Nacht, ständig in Alarmbereitschaft und niemals wissend, welcher Teil ihres Hirns als nächstes ausgeknipst wird? Sie litt fürchterlich. Sie war völlig verzweifelt. Mit ihrem Leiden nagelte sie mich zuhause fest, ich konnte nicht mehr weg, konnte meine alten Beziehungen nicht mehr pflegen und meine Freunde nicht mehr besuchen... sag: Hast du das auch so mitgemacht? Okay, du hast dich nach ihrer Rehabilitationsphase ein wenig um sie gekümmert - als es ihr vergleichsweise gut ging. Ich sag dir was: Du hast keinen blassen Dunst davon, was du mir da anhängen willst!'"
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"Wieso Selbstbetrug?" fragte Faust. "Ihre menschliche Gestalt hat Cordula doch behalten, bis sie starb. Erst als sie tot war, wurde sie - wenn du das so siehst ... also ihre Leiche - zum Alptraum von Lisa. Und dass ihre Leiche noch ansehnlich sein muss, kann sie ja wohl nicht gemeint haben. Das ist doch eh nur Sondermüll."
Ich spürte einen Stich in die Brust. Missbilligend wiederholte ich: "'Sondermüll'" und sah ihn befremdet an.
"Ja, ist doch wahr! Wir können Cordula gewiss anerkennend und mit Hochachtung im Gedächtnis behalten, aber ihre Leiche ist Schrott, und zwar giftiger. Glaubst Du etwa, all die Radio-, Chemo- und was weiß ich für Behandlungen an ihr sind spurlos vorübergegangen?"
Ich war mit meiner Geschichte noch nicht fertig und spürte, dass Faust mich auf ein ganz anderes Gleis zu leiten führte, als mir recht war. Und dies noch auf eine fast verletzend provozierende Art. Nur mit Mühe widerstand ich der Versuchung, seinen öden Materialismus - oder was immer er da vertrat - zu attackieren.
"Ich wollte dir noch etwas anderes erzählen, denn du weißt ja immer noch nicht, warum ich dich heute nacht angerufen habe ..." sagte ich.
"Sicher. Tu Dir keinen Zwang an. Ich bin ganz Ohr." antwortete er lächelnd.
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"Am späten Vormittag des kommenden Tages rief mich Lisa im Büro an.
'Weißt du, wo ich bin?' schrie sie hysterisch.
'Nein, ich kann dich nicht sehen.'
'Im Leichenschauhaus! Vor zwei Stunden rief mich die Polizei an, damit ich eine Person identifiziere, die am Fuß des Jungfrauenfelsens gefunden wurde. Es ist Cordula!'
'Was?!'
'Die Polizei sagt, es wäre Selbstmord gewesen. Eine Zeugin hat gesehen, wie sie sich von da oben herunterfallen ließ.'
'Oh Gott! Willst du, dass ich zu dir komme?'
'J- nein. Du musst ja arbeiten. Aber vielleicht können wir gemeinsam zu Mittag essen? Vorher jedoch - du hast doch einen Schlüssel zu ihrer Wohnung. Schau mal nach, ob sie einen Hinweis oder einen Abschiedsbrief hinterlassen hat.'"
"Ich machte so schnell wie möglich Schluss mit meiner Arbeit, fuhr nach Hause, nahm Rind mit und fuhr zu Cordulas Wohnung. Alles schien so still und aufgeräumt zu sein und irgendwie noch erfüllt von ihrer Gegenwart. Auf ihrem Computertisch fand ich eine Notiz, die sie auf einen Zettel gekrakelt hatte: 'Guck PC'. Ich schaltete das Gerät ein. Auf dem Desktop befand sich ein Dokument-Icon mit dem Titel 'ADIEU'. Ich öffnete es und las:
'Lebewohl, Liebes,
Jonas hatte recht. Es ist Zeit zu gehen.
Ich will nicht warten, bis die Krankheit mein Hirn aufgefressen hat oder bis die Ärzte es aus mir herausgeschnitten haben. Ich kann nicht leben ohne einen Rest an menschlicher Gestalt. Ich will nicht zu ein elendes Stück Fleisch enden.
Sei mir nicht böse. Ich muss es tun, solange ich es noch kann.
Cordula'
Ich fühlte mich, als hätte einen Schlag voll in die Magengrube erhalten. Sie hatte mich gestern mit Hilfe von Hoffnung zum Narren gehalten. Was ein Mist ... es ist ja so viel besser, wenn man mit Hilfe von Enttäuschungen betrogen wird als mit Hoffnung! Wie konnte sie mich nur so reinlegen? Ich fluchte. Mir liefen die Tränen über die Wagen. Da war nicht nur Trauer, sondern auch ganz viel Zorn. Und Schuldgefühle.
Dabei wusste ich ja, warum sie so gehandelt hatte. Sie hatte ihr Leben immer in die eigenen Hände genommen und versucht, ihr Schicksal im Griff zu behalten. Diese Art von Autonomie war für sie der Inbegriff von Menschenwürde. Nur einmal hatte es eine Ausnahme gegeben - in ihrer Beziehung zu Jonas. Sie hatte sich in sie fallen lassen - und er hatte sich davongemacht.
Ich war völlig fertig. Ärgerte mich, dass ich ihr Manöver gestern Abend nicht durchschaut hatte und fühlte mich schuldig. Zugleich fühlte ich mich verraten an unserem gemeinsamen Kampf gegen ihre Krankheit, an all der Hilfe, die Lisa und ich ihr hatten zukommen lassen. Außerdem hatte sie ihren Hund im Stich gelassen, das Riesenvieh, für das ich jetzt wohl sorgen musste. Rind schnupperte ängstlich im Haus herum und suchte Cordula.
Andererseits musste ich zugeben, dass ihr Verhalten sehr konsequent gewesen war. Sie hatte ihre Lebenseinstellung bis zum bitteren Ende durchgezogen. Bis heute frage ich mich: War das nun feige oder mutig und gradlinig? Ihre Hoffnung, dass ihre Flucht in den Tod ihre 'Reste menschlicher Gestalt' bewahren würde, hat sich angesichts ihrer zerschmetterten Leiche als Selbstbetrug erwiesen. Lisa jedenfalls ist heute noch nicht über den Anblick von Cordulas Leiche hinweggekommen..."
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"Manchmal bin ich eine solche Närrin und kriege nicht mal mit, was mit meinen engsten Freunden los ist ... :(
Einen Monat nach ihrer Heimkehr schien bei Cordula alles ganz gut zu laufen – außer ihren üblichen Handicaps, was das Sprechen, schnelle Bewegungen, eine permanente Müdigkeit und gelegentliche Depressionen betraf. Ihr Haar wuchs wieder, und so wollte ich sie eigentlich nur das übliche fragen, was sie von mir erledigt haben wollte. Stattdessen erkundigte sie sich: "Was weißt du eigentlich über Hirntumore?"
Ich wusste nicht sehr viel über diese Krankheit. Ich wollte es auch gar nicht wissen. Aber Cordula führte mich zu ihrem Computer: "Schau!"
Wir surften zu einer Website mit jeder Menge Information über alle mögliche Krebsarten, Klinik-Informationen, Selbsthilfegruppen, und so weiter. Sie nötigte mich auch, über ihren Krebstyp nachzulesen: 'Glioblastom'. Ich las und las. Cordula zeigte mir die Zusammenfassungen und die Details: 'Schlechte Prognose' – durchschnittliche Überlebensdauer nach einer Diagnose: Wenige Monate. Es sah alles aus wie ein Todesurteil. Danach rief sie Forumsberichte auf, von denen die meisten so begannen: 'Mein Vater/Meine Schwester/Mein Sohn erhielt die Diagnose Astrozytom IV. Kann uns jemand einen Rat geben?' Darauf folgte die in mehreren Postings geschilderte Leidensgeschichte – wie die Schlacht gegen die Krankheit begann, begleitet von vielen gutgemeinten Ratschlägen und Schilderungen von Krankheitsverläufen und therapeutischen Anstrengungen, welche ungeheure Angst, Zwischenzeiten von Hoffnung, Freude, Verzweiflung und viel Solidarität offenbarten. Am Ende aber die Nachricht: 'Ich bedaure, euch mitteilen zu müssen, dass sie/er starb ...' Immer wieder unterschiedliche Leute, zT sehr unterschiedliche Krankengeschichten, aber stets dasselbe Ende. Ich wurde bleich wie ein Leinentuch und fühlte mich furchtbar. Es war offensichtlich, wie Cordula ihr Gemüt mit diesem Stoff regelrecht vergiftet hatte.
Ich sah sie an, versuchte ein Lächeln aufzusetzen und sagte ziemlich hilflos: "Es gibt immer Hoffnung .... aber du solltest nicht so viel von diesem Zeugs da lesen."
Meine Worte nicht weiter beachtend lotste sie mich auf eine andere Website, die neue Therapien schilderte. Ich las von speziellen Radiotherapien, eine Glycerin-Therapie, Hirnimplantaten, Glukose-PET und so weiter.
Schließlich deutete Cordula auf einen Eintrag über eine Therapie mit einem Medikament namens Roaccutan: 'Ich habe diese Leute kontaktiert.' sagte sie und zeigte mir einen Brief der dazugehörigen Klinik. Man hatte sie für den kommenden Tag zu einer medizinischen Untersuchung eingeladen.
'Oh, das ist ja schon morgen!' sagte ich.
'Ja,' antwortete sie. 'Kannst du Rind zu dir nehmen, solange ich nicht zu Hause bin?'
'Hmm... in Ordnung.' sagte ich. Es war nicht das erste Mal, dass Rind bei mir Urlaub machte.
Als wir uns verabschiedeten, gab mir Cordula die Hundeleine und umarmte mich so zärtlich und innig, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Sie war drauf und dran zu heulen, als ich Rind, der nicht von ihr weg wollte, in meinen Mini zwang."
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"Eine Zeit lang hörte ich nichts von Cordula und Jonas. Nach der Chemotherapie wollten sie in Urlaub fliegen, und ich dachte, dass es Cordula wieder einigermaßen gut ginge. Aber fünf Monate nach der Operation rief mich Jonas an und bat mich um einen Besuch.
Die Situation war schlimm. Jonas benötigte dringend eine Auszeit. Tatsächlich befand sich Cordula in einem schlechten Zustand. Ständig unerträgliche Kopfschmerzen und Depressionen, selbst dann, wenn ihr Bewusstsein keine Aussetzer hatte. Sie hatte Probleme, Worte zu finden für das, was sie sagen wollte.
Der Arzt empfahl ihr eine weitere gehirnchirurgische Behandlung: 'Der Tumor ist operabel', der sie sich dann auch wenig später unterzog. Trotz einer "noch effektiveren" Chemotherapie (Cordula meinte mehrfach, sie müsse sterben, so schlecht ging es ihr dabei; sie verlor auch alle ihr noch verbliebenen Haare) und einem intensiven Rehabilitationsaufenthalt konnte sie nicht mehr deutlich sprechen und hatte große Probleme bei schnellen, gezielten Bewegungen.
Schließlich, als ich sie aus der Reha-Klinik abholte und heim fuhr, so dass sie Jonas und ihren Hund 'Rind' begrüßen konnte, fanden wir das Haus dunkel und leer vor. Auf dem Küchentisch lag eine Notiz von Jonas:
'Tut mir leid, Liebste,
ich halte dieses Leben nicht mehr aus.
Lebe wohl,
Jonas.
PS: Ich habe Rind zu Lisa gebracht.'
Ich vermute, dies war der Augenblick, als ihre Hoffnung und ihr Überlebenswille zusammenbrachen. Sie schrie zuerst, dann heulte sie und verfiel in Depressionen. Aber dann wies sie mein Angebot zurück, sie zu mir nach Hause zu nehmen. 'Nein! Ich will mein Eigenes!' stammelte sie. Sie bat mich nur darum, Rind wieder zurück zu ihr zu bringen.
Während der kommenden Wochen besuchte ich sie regelmäßig, erledigte Besorgungen für sie und hielt ihre Wohnung ein wenig in Schuss. Cordula surfte häufig im Internet und wirkte erstaunlich ruhig und stabil."
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"Im Krankenhaus diagnostizierten sie einen bösartigen Hirntumor. Die Ärzte empfahlen dringend eine Operation. Der Tumor sei war laut CT gut operabel. Cordula, die von ihrem Zusammenbruch und der Diagnose völlig überrascht und in Panik geraten war, stimmte zu.
Lisa und ich besuchten sie kurz nach der OP im Krankenhaus. Es war entsetzlich. Jonas trafen wir auch. Er schien sehr deprimiert zu sein, und überhaupt war er der einzige, mit dem wir sprachen, denn Cordula hockte nur apathisch auf ihrem Rollstuhl.
Jonas berichtete, dass die Ärzte Cordulas jetzigen Geisteszustand als vorübergehend bezeichnet hatten. Eine baldige Besserung sei zu erwarten. Dennoch machte er klar, dass die Krankheit von Cordula – also die Aussicht, eine Krebskranke womöglich bis zu ihrem Tod pflegen zu müssen – nicht mit seiner Idee von "Leben" vereinbar sei.
Bald nach unserem Besuch begann der Winter, Cordula gewann die Klarheit im ihrem Kopf zurück und alles schien sich zum Besseren zu wenden. Wir waren sehr glücklich, wirklich! Wir realisierten nicht (und wollten dies auch gar nicht wahr haben), dass dies erst der Beginn der Tragödie war.
Ich hatte noch zu lernen, dass die Kombination aus einer schlechten Krankheitsprognose und unerschütterlich optimistischen Medizinern manchmal nichts anderes ist als die Hölle."
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