Samstag, 20. September 2008
Margaretes Geschichte XXXIX: Ausgetrickst

"Am späten Vormittag des kommenden Tages rief mich Lisa im Büro an.
'Weißt du, wo ich bin?' schrie sie hysterisch.

'Nein, ich kann dich nicht sehen.'

'Im Leichenschauhaus! Vor zwei Stunden rief mich die Polizei an, damit ich eine Person identifiziere, die am Fuß des Jungfrauenfelsens gefunden wurde. Es ist Cordula!'

'Was?!'

'Die Polizei sagt, es wäre Selbstmord gewesen. Eine Zeugin hat gesehen, wie sie sich von da oben herunterfallen ließ.'

'Oh Gott! Willst du, dass ich zu dir komme?'

'J- nein. Du musst ja arbeiten. Aber vielleicht können wir gemeinsam zu Mittag essen? Vorher jedoch - du hast doch einen Schlüssel zu ihrer Wohnung. Schau mal nach, ob sie einen Hinweis oder einen Abschiedsbrief hinterlassen hat.'"


"Ich machte so schnell wie möglich Schluss mit meiner Arbeit, fuhr nach Hause, nahm Rind mit und fuhr zu Cordulas Wohnung. Alles schien so still und aufgeräumt zu sein und irgendwie noch erfüllt von ihrer Gegenwart. Auf ihrem Computertisch fand ich eine Notiz, die sie auf einen Zettel gekrakelt hatte: 'Guck PC'. Ich schaltete das Gerät ein. Auf dem Desktop befand sich ein Dokument-Icon mit dem Titel 'ADIEU'. Ich öffnete es und las:

'Lebewohl, Liebes,
Jonas hatte recht. Es ist Zeit zu gehen.
Ich will nicht warten, bis die Krankheit mein Hirn aufgefressen hat oder bis die Ärzte es aus mir herausgeschnitten haben. Ich kann nicht leben ohne einen Rest an menschlicher Gestalt. Ich will nicht zu ein elendes Stück Fleisch enden.
Sei mir nicht böse. Ich muss es tun, solange ich es noch kann.
Cordula
'

Ich fühlte mich, als hätte einen Schlag voll in die Magengrube erhalten. Sie hatte mich gestern mit Hilfe von Hoffnung zum Narren gehalten. Was ein Mist ... es ist ja so viel besser, wenn man mit Hilfe von Enttäuschungen betrogen wird als mit Hoffnung! Wie konnte sie mich nur so reinlegen? Ich fluchte. Mir liefen die Tränen über die Wagen. Da war nicht nur Trauer, sondern auch ganz viel Zorn. Und Schuldgefühle.

Dabei wusste ich ja, warum sie so gehandelt hatte. Sie hatte ihr Leben immer in die eigenen Hände genommen und versucht, ihr Schicksal im Griff zu behalten. Diese Art von Autonomie war für sie der Inbegriff von Menschenwürde. Nur einmal hatte es eine Ausnahme gegeben - in ihrer Beziehung zu Jonas. Sie hatte sich in sie fallen lassen - und er hatte sich davongemacht.

Ich war völlig fertig. Ärgerte mich, dass ich ihr Manöver gestern Abend nicht durchschaut hatte und fühlte mich schuldig. Zugleich fühlte ich mich verraten an unserem gemeinsamen Kampf gegen ihre Krankheit, an all der Hilfe, die Lisa und ich ihr hatten zukommen lassen. Außerdem hatte sie ihren Hund im Stich gelassen, das Riesenvieh, für das ich jetzt wohl sorgen musste. Rind schnupperte ängstlich im Haus herum und suchte Cordula.

Andererseits musste ich zugeben, dass ihr Verhalten sehr konsequent gewesen war. Sie hatte ihre Lebenseinstellung bis zum bitteren Ende durchgezogen. Bis heute frage ich mich: War das nun feige oder mutig und gradlinig? Ihre Hoffnung, dass ihre Flucht in den Tod ihre 'Reste menschlicher Gestalt' bewahren würde, hat sich angesichts ihrer zerschmetterten Leiche als Selbstbetrug erwiesen. Lisa jedenfalls ist heute noch nicht über den Anblick von Cordulas Leiche hinweggekommen..."

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